Karl Atiogbe bietet seinen Schwarzen Brüdern ein Wort (1908)

Am 15. März 1908 veröffentlichte das Berliner Tageblatt einen bemerkenswerten offenen Brief mit dem Titel „Ein Wort für Meine Schwarzen Brüder”. Der Brief, geschrieben von Kuaku Karl Atiogbe aus Aneho Togo, war zum Teil eine Reaktion auf einen Vorfall rassistischer Diskriminierung, den er einige Wochen zuvor in einer Berliner Weinbar erlitten hatte. In dem Brief stellte Atiogbe die vorherrschenden Stereotypen über die Unterlegenheit der Afrikaner eloquent in Frage und versuchte durch erhebliche Details, die intellektuellen und erzieherischen Fähigkeiten seiner Landsleute in Togo aufzuzeigen. Während Elemente aus Atiogbes Ansichten als unterstützende Aspekte der europäischen Zivilisierungsmission interpretiert werden können, kritisieren seine Schlussworte Europas (Deutschlands) Einfluss auf Afrika.

Atiogbe wurde 1880 in eine einflussreiche togolesische Küstenfamilie geboren und wurde Anfang der 1890er Jahre nach Deutschland geschickt, um dort ausgebildet zu werden. 1895 trat er in das Kasseler Realgymnasium ein, und über seine akademischen Fähigkeiten, einschließlich seiner hohen Sprachkenntnisse, wurde sogar in der Presse berichtet. Nach dem Schulabschluss ließ er sich schließlich in Dresden nieder, anstatt nach Togo zurückzukehren. Dort heiratete er die Deutsche Margarethe Schütze und etablierte sich als Kaufmann. Während des Ersten Weltkriegs diente Atiogbe als Soldat im Landsturm mit dem Ersatz-Pferde-Depot XII. in der Armee. Er starb im März 1917 in Dresden im Alter von 36 Jahren, überlebt von seiner Frau und ihrer Tochter, der zukünftigen Künstlerin Dolly Anany.

Robbie Aitken (übersetzt von Lilian Gergely)


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Ein Wort für meine schwarzen Brüder

Eine der Hauptforderungen des wahren Freiheitsgefühls ist die Achtung vor der Persönlichkeit – ohne Rücksicht auf Religions- oder Rassenzugehörigkeit – des einzelnen. Eine so hohe Auffassung bei den Lesern dieser Zeilen voraussetzend, wage ich es, einmal vom Standpunkt des Schwarzen aus zu zeigen, daß der Neger nicht das kulturlose und kulturfeindliche Geschöpf ist, für das er in Europa noch immer gilt, und hoffe, daß meine Wünsche und Sorgen hier die geeignete Resonanz finden werden.

Ich bin mir bei diesem Versuche sehr wohl bewußt, daß ich einen einseitigen Standpunkt vertrete. Doch glaube ich wohl, daß derartige Ausführungen auch in objektiver Hinsicht einen gewissen Wert haben für denjenigen, der dem verachteten und doch so bildungsfähigen und lernbegierigen Schwarzen bei seinen Bestrebungen nach kulturellem Fortschritt behilflich sein will. Vielleicht tragen diese Zeilen dazu bei, Vorurteile zu überwinden und von meinen Stammesgenossen ein wenig von der Verachtung zu nehmen, unter der die Gebildeten unter ihnen unsagbar leiden. Ich selbst war vor einigen Wochen (daß „Berliner Tagesblatt“ nahm sich damals meines Falles ritterlich an) das Opfer eines, rohem Rassenhasse entsprungenen Insults in einem öffentlichen Lokal. Der Umstand, daß ich ein Farbiger bin, genüge, um mir den Zorn und die höhnenden Beschimpfungen von seiten einiger Herren einzutragen, die auf ihre „Bildung“ sonst sicherlich nicht wenig stolz sind.

Ich will nicht banal sein und sagen: Wir „Wilden“ sind doch bessere Menschen. Soviel aber kann ich getrost versichern, daß ein Neger in seiner Heimat sich niemals so grundlos unhöflich gegen einen bescheiden auftretenden Weißen benommen hätte. Nicht etwa aus sklavischer Furcht vor der höher kultivierten Rasse, sondern aus angeborener Höflichkeit.

Es klingt sicher im ersten Augenblick übertrieben, wenn ich behaupte, daß die Neger meiner Heimat keine der Weißen untergeordnete Rasse sind. Es widerspricht dieser Behauptung der Umstand, daß sie keine ihnen eigentümliche Kultur bisher hervorgebracht haben. Und doch, zieht man die natürliche Intelligenz des Schwarzen in Betracht, so wird man zugeben, daß von der Entwicklung der afrikanischen Kultur noch viele Früchte zu erhoffen sind, denn der Schwarze hat einen starken natürlichen Trieb nach Bildung und eine gewisse Assimilationsfähigkeit. Aus dem letzten „Jahresbericht der Entwicklung der Schutzgebiete in Afrika und der Südsee“ geht hervor, daß von den 2029 farbigen Männern in Lome 213 Handlungsgehilfen, 173 Handwerker und 15 Lehrer sind. Mit Eifer sind nach dem offiziellen Bericht die Eingeborenen bestrebt, durch Erlernung der deutschen Sprache eine Kultursteigerung für sich zu erzielen. Der Wunsch der Eingeborenen ist in der Tat so stark auf die Erlernung des Deutschen gerichtet, daß „Millionen, welche die Ausbildung der Eingeborenen in der Landessprache zu eifrig betonen, Gefahr laufen, Einbuße zu erleiden.“

Die Entwicklung des Schutzgebietes Togo hat es mit sich gebracht, daß die Nachfrage nach farbigen, deutschsprechenden Gehilfen immer größer wird. Sie finden lohnende Anstellung bei der Regierung, bei der Post, im Betriebe der Bahnen, bei kaufmännischen Unternehmungen, Schifffahrtsagenturen und Bauunternehmern.

Die Zahl der Schüler in der Regierungsschule in Lome ist zum Beispiel von 100 auf 125 im letzten Jahre gestiegen. Mehrere ausgebildete Burschen konnten entlassen und dem Dienst des kaiserlichen Gouvernements überwiesen werden.

Das „Schwänzen“ des Unterrichts gehört zu den seltenen Ausnahmefällen. Im allgemeinen ist der Schulbesuch nach den offiziellen Berichten ein regelmäßiger.

Die Handwerkerschule in Lome zählt 30 Schüler: 13 Tischler- und Zimmermanns-, 11 Schlosser- und 6 Schneiderlehrlinge. Von diesen 30 Schülern konnten 8 entlassen werden.

Die norddeutsche Missionsgesellschaft unterhielt 79 Schulen mit 2629 Schülern (gegen 60 Schulen mit 2021 Schülern im Vorjahre). Die Zahl der eingeborenen Gehilfen ist im letzten Jahre von 89 auf 115 gestiegen. Von den 38 Zöglingen des Seminars in Amedzowhe bestanden sämtliche 12 Schüler der ersten Klasse die Abgangsprüfung und wurden als Lehrer angestellt. „Es herrscht“, so heißt es in dem Missionsbericht, „Zucht, Ordnung und Eintracht unter den Seminaristen, obwohl sie verschiedenen Stämmen angehören.“

Die Ergebnisse der Schulprüfungen in der Stationsschule dieser Mission zeigen fast durchweg, daß Lehrer und Schüler mit Eifer und gutem Erfolg gearbeitet haben. Von den 770 Schülern, die zur Schulbeihilfe für deutschen Unterricht bei der Regierung angemeldet waren, hatten 459 die Bedingungen von 150 Schultagen erfüllt. Ueber die einzelnen Bezirke hebt der Jahresbericht unter anderem folgendes hervor:

Im Lomebezirk hat sich die Schülerzahl um 63 vermehrt. Die Schlußprüfungen ergaben einen unverkennbaren Fortschritt. Die Schüler der ältesten Klasse fanden alle eine gute Anstellung. Zwei wurden als Hilfslehrer verwendet. In der Stationsschule in Ho traten aus der siebenten Klasse 12 Schüler ins Semmar. Im Amedzowhebezirk erfüllten die eingeborenen Lehrer mit Treue und Hingebung ihre Pflicht, und die Leistungen der Schüler werden von Jahr zu Jahr besser. Aus der siebensten Klasse konnten 13 ins Seminar aufgenommen, 5 als Hilfslehrer angestellt werden. Der Agubezirk weist 648 Schüler auf. Der Schulbesuch in den Oberklassen der Stationsschule war gut. Erfreulich ist der Eifer der Togojungen im Lernen. Die Oberklassen baten sogar um Verlängerung ihrer Arbeitszeit am Abend. Die Prüfung förderte gute Erfolge zutage: drei Schüler konnten ins Seminar vorrücken, zwei als Hilfslehrer angestellt werden.

Aus diesen offiziellen Berichten geht deutlich hervor, daß die farbige Jugend lernbegierig und bildungsfähig ist. Sehr häufig erhalte ich selbst zahlreiche Zuschriften von jungen Leuten aus der Heimat, in denen sie mich um Anweisungen bitten, um den Weißen nacheifern und ihre Achtung erringen zu können.

Die geistige Regsamkeit meiner schwarzen Brüder prägt sich auch in einer Reihe von Sprichwörtern aus, von denen einige große Aehnlichkeit mit deutschen geflügelten Worten haben. Zum Beispiel: „Die Baumfrucht fällt unter den Baum.“ – „Ein Mensch kann nicht zwei Herren dienen.“ – „Eine schlechte Palmnuß verdirbt alle Palmnüsse.“ – „Leere Hand geht nicht zu Markte.“ – „Das Krokodilkind stirbt nicht den Wassertod.“ – „Die eigene Hand täuscht niemand.“ – „Die Krabbe wandelt sich nicht zum Vogel.“ – „Eine schöne Stadt ist nicht stark.“

Auch musikalisch ist der Neger nicht unbegabt. Der erste deutsche Lehrer in Togo, dem auch ich die Grundlagen der deutschen Sprache verdanke, bildete zu meiner Zeit eine Gesangsklasse für die unterste Stufe. Nach kaum zwei Monaten waren unter 20 Schülern 17 imstande, eine einfache Melodie vom Blatte zu singen.

Der Kriminalstatistik zufolge bleibt leider in Togo die Kriminalität der Eingeborenen noch immer beträchtlich genug. Es geht aus der Statistik aber deutlich hervor, daß die Verbrechen gegen die Sittlichkeit (II. Gruppe) die geringste Zahl ausmachen. Meine Landsleute sind in sittlicher Beziehung nicht unreiner als die Europäer. Unnatürliche Laster hat Europa nach den Kolonien exportiert. Staatssekretär Dernburg erklärte nach seiner Rückkehr aus Ostafrika gleichfalls, daß die Eingeborenen dort sittenrein seien.

Vielleicht wird die heute noch verachtete Negerrasse vermöge ihrer Unverbrauchtheit eines Tages das Notreservoir werden, aus dem die Blutauffrischung für Europas müde Kultur kommen wird. Jedenfalls glaube ich, daß auch der Neger einen Anspruch auf Achtung oder wenigstens ruhige Duldung erheben darf, wenn ich auch wohl wie, daß Emanzipationsbestrebungen einer Rasse oder eines Standes nicht plötzlich durchzusetzen und alteingefleischte Vorurteile nicht von heute auf morgen zu überwinden sind.


Quelle: Karl Atiogbe – Aneho (Togo), “A Word for My Black Brothers,” Berliner Tageblatt. 2 Beiblatt (15 March 1908).


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