Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906)

Heute ist er zwar wenig in Erinnerung geblieben, trotzdem war Gustav Frenssen (1863-1945) im frühen zwanzigsten Jahrhundert ein erfolgreicher und beliebter deutscher Schriftsteller. Obwohl er ein praktizierender Pastor war, erlaubte ihm der Erfolg seiner ersten Werke Die Sandgräfin (1896) und Jörn Uhl (1901), sich ganz dem Schreiben zu widmen, und er verbrachte die nächsten Jahrzehnte damit, patriotische Werke zu schreiben, die einen zunehmend chauvinistischen und antisemitischen Ton annahmen. Er wurde ein begeisterter Anhänger der Nazis und vieler ihrer schlimmsten Vorgehensweisen, einschließlich antijüdischer Maßnahmen und der Euthanasiepolitik.

Sein Roman Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906), der den Völkermordkrieg in Südwestafrika zum Thema hatte, war sein meistverkauftes Werk und blieb bis in die Nazizeit beliebt. Der Erfolg führte sogar dazu, dass er für den Literatur-Nobelpreis in Betracht gezogen wurde. Das Werk wurde für seinen Realismus gelobt – er basierte die Details für den Roman auf Interviews mit Deutschen, die gekämpft hatten – und es ist für seine nuancierte Darstellung des Lebens eines weißen Soldaten bemerkenswert, die die physischen und emotionalen Belastungen aufzeigt, die Soldaten in der Wüste erlitten, während sie ihre „Pflicht” gegen unmögliche Gewinnchancen erfüllten. Die Darstellung des Herero-Feindes verrät jedoch wenig Nuancen. In den Passagen hier stellt Frenssen den Feind als bestialische Gegner dar, die in unsichtbaren Horden vorrücken und wilde Schreie von sich geben. Eine solche Darstellung ist für Frenssens ultimative Pointe notwendig: Obwohl er durch die Ermordung so vieler Afrikaner – Männer, Frauen und Kinder – beunruhigt ist, beruhigt er sich durch die kolonialistische Logik, dass sie sich selbst in diese Lage gebracht haben.

Jeff Bowersox (translated by Lilian Gergely)


English

Um diese Tageszeit sollten wir nach den Aussagen unserer Patrouillen den Feind erreichen. Aber er war nicht da. Da dachte ich mit vielen anderen, daß es wieder nichts würde, und ärgerte mich sehr.

Da fiel vorn der erste Schuß. Die Gewehre flogen aus dem Schuh.

Wir waren mit raschem Schwung aus dem Sattel; die Zügel flogen über den Pferdehals; die Pferdehalter griffen zu. Unsere Kompanie war nur neunzig Mann stark; zehn ließen wir bei den Pferden; nur achtzig Mann gingen wir in den dichten Busch hinein. Die Feinde schossen heftig und stießen kurze, wilde Rufe aus. Ich sah einen von den Unsrigen verwundet; er kauerte und untersuchte seine Wunde am Schenkel. Ich sah noch nichts vom Feinde. Aber da sah ich, einen Augenblick nur, ein Stück von einem erhobenen Arm im graubraunen Kordrock und schoß dahin. Dann lag ich, und spähte auf ein neues Ziel. Es ging lebhaftes Feuern hin und her. Wenn einer von uns getroffen zu haben glaubte, verkündigte er es mit lauter Stimme: “Der steht nicht wieder auf! Mensch, mitten in die Brust!” Der dritte Mann zu meiner Rechten, der ein wenig nach vorn an einem Busch lag, zuckte zusammen. Drüben schrie eine lachende Stimme: “Hast genug, Dütschmen?” Der Kamerad sagte mit ruhiger Stimme: “Ich habe einen Schuß in der Schulter” und kroch auf allen vieren zurück.

Ich hörte durch all unser eigen Schießen, daß wir auch von links her Feuer bekamen. Nun wurde dies Feuer stärker. Sie kamen näher. In dichten Reihen krochen uns schossen nicht mehr. Wir krochen um eine, zwei Körperlängen zurück. Sie schrien und riefen: “Paß auf, Dütschmen! Paß auf!” Und lachten wild. Andre schrien: “Hurra, Hurra!” Es wimmelte von Menschen. Ich glaubte, daß sie nun hervorbrächen, im wilden Sturm, und daß es aus mit uns wäre. Ich hatte wegen unserer Verwundeten eine furchtbare Angst für den Fall, daß wir zurück mußten.

Dann ging es von Mann zu Mann: Wir wollen stürmen. Nun gellte der Ruf. Niemals in meinem Leben vergesse ich ihn. Mit wildem Schreien, mit verzerrten Gesichtern, mit trockenen, brennenden Augen sprangen wir auf und stürmten vorwärts. Die Feinde sprangen, schossen und stoben mit lautem Schreien zurück. Wir liefen ohne Unterbrechung schreiend, fluchend, schießend bis zu der ziemlich großen Lichtung, auf der die heißbegehrten Wasserlöcher lagen, und gleich darüber weg bis an ihren jenseitigen Rand, wo der Busch wieder anfing.

Der Feind war mit seiner ganzen ungeheuren Masse, mit Weibern, Kindern und Herden, ostwärts entflohen.

XV

Am andern Morgen wagten wir es, den Feind zu verfolgen. Wir ließen alle unsere Unberittenen bei unsern Verwundeten und Kranken im Lager und machten uns ostwärts auf. Wir waren zweihundert Reiter. Aber unsere Pferde waren schlapp, ausgehungert oder krank; und die Gegend, in die wir vorstießen, war ein Durststrecke und wenig erforscht.

In einer Breite von ungefähr hundert Metern war die Erde zur Diele zertreten. In solch breiter und solch dichter Schar war der Feind und seine Viehherden dahin gestürmt. Auf diesem Fluchtweg lagen Decken, Tierfelle, Straußenfedern, Geschirre, Weiberschmuck, Sterbendes und totes Vieh, vor sich hinstierende, sterbende und tote Menschen. Ein entsetzlicher Geruch von altem Mißt und verwesenden Kadavern erfüllte drückend die heiße, stille Luft.

Je weiter wir in der brennenden Sonne zogen, desto jammervoller wurde der Weg. Wie tief hatte sich das stolze, wilde höhende Volk in seiner Todesangst erniedrigt. Wohin ich von meinem müden Pferd herab die Augen wandte, da lag haufenweise all ihr Gut: Ochsen und Pferde, Ziegen und Hunde, Decken und Felle. Und da lagen Verwundete und Greise, Weiber und Kinder. Ein Haufe kleiner Kinder lag hilflos verschmachtend neben Weibern, deren Brüste lang und schlaff herabhingen; andre lagen allein, die Augen und Nasen voll von Fliegen, noch lebend. Irgend jemand schickte unsere schwarzen Treiber; ich dene, die haben ihnen zum Tode verholfen. So wie alles da lag, all dies Leben, so wunderlich verstreut, Tier und Mensch, wie ihm die Knie gebrochen waren, hilflos, schwer, sich noch quälend, oder schon unbeweglich, sah es aus, als wenn es aus der Luft herabgestürzt wäre.

Mittags machten wir an Wasserlöchern Halt, die bis an den Rand voll von Kadavern waren. Wir zogen sie mit den Bespannen der Geschütze heraus; aber es war nur ein wenig blutiges und stinkendes Wasser in der Tiefe. Wir versuchten die Löcher tiefer zu graben; aber es kam kein Wasser. Weide war auch nicht. Die Sonne glühte so heiß auf den Sand, daß wir uns nicht einmal hinlegen konnten. Auf durstenden und hungernden Pferden ritten wir weiter, wir Durstenden und Hungernden. In einiger Entfernung hockten Haufen alter Weiber, die stumpfsinnig vor sich hinstarrten. Hier und da standen Ochsen und brüllten. Mensch und Tier wird nachher in den Busch gestürzt sein, irgendwohin, sinnlos, in letzter Verzweiflung, irgendwo Wasser zu finden. Im Busch werden sie verdurstet sein.

Ganz verlassen lag in der glühenden Sonne ein zweijähriges Kind. Als es uns sah, setzte es sich aufrecht und sah uns an. Ich stieg ab und hob es auf und trug es eine Strecke zurück, wo an einem Busch eine verlassene Feuerstelle war. Es kroch gleich auf allen vieren über die Stelle, wobei es mit der Hand Asche und Unrat zur Seite rakte. Es fand auch gleich etwas, den Rest einer Wurzel oder einen Knochen, und aß. Es weinte nicht; es fürchtete sich auch nicht; es war ganz gleichmütig. Ich glaube, es ist da im Busch groß geworden, ohne Hilfe von Menschen.

XVI

Dann kam die Nachricht, daß der Feind nach Überwindung und Umgehung der großen Durststrecke, auf der Tausende von ihm umgekommen waren, weit im Osten, am jenseitigen Rand des Sandfeldes, an kümmerlichen Wasserstellen säße. Da beschloß der General, ihm dorthin zu folgen, ihn anzugreifen und zu zwingen, nordostwärts in den Durst und in den Tod zu gehn, damit Kolonie für alle Zeit vor ihm Ruhe und Frieden hätte.

Am Nachmittag um vier traten wir zum Gottesdienst an. Der Pastor war immer bei einer andern Abteilung gewesen, so daß ich ihn erst vor einigen Tagen zum erstenmal gesehen hatte. Er war ein großer, starker Mann und trug die Uniform und die hohen Stiefel wie wir, und saß mit Gewehr und Patronengurt im Sattel. Auch jetzt, da er vor der Kiste stand, die mit einem roten Tuch bedeckt war, trug er die Uniform und die Reiterstiefel; er hatte aber ein goldenes Kreuz vor der Brust hängen und trug am Arm ein blauweiße Binde mit rotem Kreuz. Es wurde zuerst das Lied gesungen: “Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten”; dann fing er an zu sprechen und sagte, ein Naturvolk habe sich gegen die Obrigkeit erhoben, die Gott ihm gesetzt hätte; dazu habe es sich mit entsetzlichem Morden befleckt. Da hätte die Obrigkeit uns das Schwert in die Hand gegeben; das sollten wir morgen wieder brauchen. Möchte jeder von uns als ein braver Soldat redlich führen. Es wäre eine ernste Stunde; es möchte wohl geschehen, daß der eine oder andre morgen den Abend nicht erlebe. Wir wollten Gottes Angesicht suchen, daß er uns etwas von seiner Heiligkeit und Ewigkeit schenke; dem, der sich ihm ergebe, habe er eine ewige Ruhe und Frieden vorbehalten. Wir merkten, daß es dem Pastor Ernst mit seinen Worten war, und daß er ganz und gar and sie glaubte; und wir wußten alle, es ging in ein ernstes Gefecht und vielleicht in raschen Tod oder jammervolle Verwundung und traurigen Transport; und dann noch stand uns allen das bevor: schwerer, weiter, mühsamer Weg durch schreckliche Krankheiten und heißen Hunger und quälenden Durst, bis wir wieder nach der fernen Heimat kamen. Darum hörten auch alle mit großem Ernst zu. Dann nahmen wir die Hüte ab zum Gebet.


Quelle: Gustav Frenssen,  Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht (Berlin: G. Grotes’sche Verlagsbuchhandlung, 1906), 150-165, 187-190.


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